Die Grenzgänger: Und weil der Mensch ein Mensch ist

„Heute hör‘ ich, wir soll‘n das in die Geschichte einreihen, und es muss doch auch mal Schluss sein, endlich, nach all den Jahr‘n. Ich rede und ich singe und wenn es sein muss, werd‘ ich schreien, damit unsre Kinder erfahren, wer sie war‘n“, so sang Reinhard Mey in „Die Kinder von Izieu“. Zeilen, die unterstreichen, wie wichtig es ist, sich auch heute noch intensiv mit der Geschichte des Nationalsozialismus zu beschäftigen. Denn es fällt auf, dass es oft die sind, die am lautesten schreien, sie seien nicht mehr für die Taten der Deutschen vor so vielen Jahrzehnten verantwortlich, die auch Sätze wie „Wir Deutsche sind wieder wer“ proklamieren. Mit diesem wiedergefundenen Nationalstolz lässt es sich oft dann auch hervorragend gegen Asylbewerber und Ausländer generell hetzen. Die ersten Flüchtlingsheime brannten schon.

Es geht also weniger um die Frage, ob man sich noch heute schuldig für das fühlen muss, was im eigenen Land im Dritten Reich geschehen ist. Vielmehr geht es darum, wozu Fremdenhass, der heute leider wieder erschreckend aktuell ist, schon einmal geführt hat – und um die Frage, auf welcher Seite man damals wohl gestanden hätte. Aufgrund dieser Fragen ist ein Blick in die Geschichte so dringend notwendig. Und aus diesem Grund ist Michael Zachcials Projekt mit den „Grenzgängern“ auch so beachtlich.

Auf ihrer neuen CD „und weil der MENSCH ein MENSCH ist“ finden sich 15 Neuinterpretationen von Liedern, die von KZ-Häftlingen während ihrer Zeit im Lager geschrieben wurden. „Manche von ihnen gehören zu den besten Künstlern ihrer Zeit, ihre Lieder und Geschichten sollten unsere Kinder kennen“, so steht es auch in der Einleitung im Booklet des Albums. Direkt daneben sind die unterschiedlichen Winkel (auf der Kleidung zu tragendes Abzeichen zur Kennzeichnung der Häftlinge im KZ) der Gefangenen aufgeführt, die aufzeigen, wer die vielen Millionen waren, die in den Konzentrationslagern gefangen gehalten und zu großen Teilen getötet wurden. In erster Linie Juden, aber auch politische Gegner des Systems (vor allem Kommunisten), Berufsverbrecher, Emigranten, Zeugen Jehovas, Homosexuelle und sogenannte Asoziale. Auf den weiteren Seiten finden sich die Texte und Hintergrundinformationen zu den für dieses Album ausgewählten Liedern, die von Juden und Widerstandsleistenden geschrieben wurden.

Es ist also völlig legitim, wenn einem beim Einlegen der CD etwas unbehaglich wird, weiß man doch, mit welch hartem Tobak man sich nun auseinandersetzen wird. Hier geht es um Geschichte, die beim Hören definitiv wieder lebendig wird! Denn wenn diese Lieder im klarsten Sound von vier hervorragenden Musikern und der sehr ausdrucksstarken Interpretation von Michael Zachcial, dessen Stimme für diese Musik wie gemacht zu sein scheint, so emotional und leidenschaftlich vorgetragen werden, klingen die besungenen Geschichten nicht mehr, als wären sie etwa 70 Jahre alt. Man ist wieder mitten drin. Die Besetzung mit Gitarre, Akkordeon, Cello und Klavier klingt auch so, wie man sich jüdische Folklore in etwa vorstellt. Die Art der Musik entspricht also durchaus den Erwartungen, allein die Qualität und Intensität des Gehörten macht wirklich sprachlos. Dass die Gitarre bei schnelleren Stücken wie dem „Neuengammer Lagerlied“ oder bei „Wir zahlen keine Miete mehr“ auch mal elektrisch wird, macht das Gehörte nicht weniger authentisch, nur einen Hauch moderner – und damit umso lebensnäher.

Auch textlich überrascht die CD zunächst wenig, wenn wie im ersten und wohl bekanntesten Lied „Die Moorsoldaten“ das tägliche Leid im Lager besungen wird. „Heimwärts, heimwärts jeder sehnet zu den Eltern, Weib und Kind. Manche Brust ein Seufzer dehnet, weil wir hier gefangen sind. Auf und nieder gehn die Posten, keiner, keiner kann hindurch, Flucht wird nur das Leben kosten, vierfach ist umzäunt die Burg.“ Aber dabei bleibt es nicht. Zieht sich die Thematik Leid wie ein roter Faden durch fast alle Stücke, so auch die Wendung in der jeweils letzten Strophe mit der Hoffnung, dass das Leid enden wird. Hoffnung, die sicher ein wichtiger Anker war, um die Zeit im Lager zu ertragen. „Doch strahlt uns im Osten ein Morgenrot, aufleuchtend hell, wie ein Wunder, kündet uns allen ein Ende der Not. Uns geht die Sonne nicht unter!“

Es gibt aber auch Lieder, die aus einer anderen Perspektive erzählen. „Schließ Aug und Ohr für eine Weil“ hat einen eher beruhigenden Charakter, fast wie ein Schlaflied. „Mein Vater wird gesucht“ erzählt die politische Verfolgung und den Tod des Vaters aus der Sicht eines Kindes oder Jugendlichen, dass es einem wirklich das Herz bricht. „Wir zahlen keine Miete mehr“, schwungvoll vorgetragen, ist an Sarkasmus kaum zu überbieten, wenn die kostenfreie Unterkunft im Lager und später im Grab als dankbares Los „angepriesen“ wird.

Letztlich zieht sich aber noch eine weitere Komponente durch die Lieder: Der Wille, das harte Los mit Stolz und Würde zu ertragen. Dieser Unterton, der oft auch nur dezent zwischen den Zeilen widerklingt, hat mich zutiefst beeindruckt. In vielen Stücken mischt sich dies auch mit ungebrochenem Widerstand gegen das System. Das mag an einigen Stellen sogar so weit führen, dass sich bei Zeilen wie „Rote Fahnen werden wehen über diesem Lager dann. Nicht SA hat dann die Waffen, sondern nur der Arbeitsmann“ der Hals zuschnürt bei der Frage, ob Fahnen, Macht und Waffen unabhängig der politischen Ideologie jemals zu etwas Gutem geführt haben.

Aber darum geht es bei dieser CD nicht, sie versteht sich wie auch diese Rezension nicht als politischer Wegweiser. Sie ist als lebendiges Stück Zeitgeschichte eines der dunkelsten Kapitel der Menschheit viel mehr ein Plädoyer für die Menschlichkeit. Und dieses ist auch in heutiger Zeit aktueller denn je.

von Kai-Olaf Stehrenberg , für Ein Achtel Lorbeerblatt

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