»In einem kahlen Klinikbett
da hängt ein alter Mann am Tropf,
mit schlapper Hand, die Lippen schmal,
die Wangen weiß, die Augen weit.
Er will was sagen, du verstehst es nicht,
was er da heiser haucht.
Aber schau, wie sich sein Kiefer reckt:
Der zeigt dir, wie das Leben schmeckt.«
»Vorzüglich!« hauchte Christof Stählin selbst noch in seinen letzten Stunden, wenn er nach seinem Befinden gefragt wurde. Er verstarb am 9. September 2015. Sein zuvor operierter Hirntumor hatte sich wieder breit gemacht. Christof Stählin war nicht nur einer der bedeutendsten Liedermacher, Kabarettisten und Schriftsteller unserer Tage, der seine Themen aus den »Schluchten des Alltags« geschöpft hat. Er war das magnetische Zentrum eines künstlerischen Nachwuchses auf dem Gebiet der so genannten Kleinkunst. Unterschiedlichste jung-talentierte Freigeister suchten seine Nähe, fanden Austausch und übten miteinander das Aufspüren von Poesie und Musik jenseits der gängigen Formate Klassik, Pop etcetera.
Schon in den siebziger Jahren arbeitete Christof Stählin auch akademisch-pädagogisch mit interessierten jüngeren Kollegen. Er hielt regelmäßig Vorträge bei den Treffen der AG-Song und organisierte auch selber Tagungen für Liedermacher. Ich erinnere mich an einen Workshop von ihm über »die Erotik zwischen Künstler und Publikum«. Seine Kunstgattung verglich er gerne mit dem Inhalt der Sago-Schublade in Ur-Omas Küchenbüffet. Neben den Schubladen für Zucker, Salz und Mehl, die alle entsprechend ihrer Beschriftung regelmäßig nachgefüllt wurden, führte die Sago-Schublade ein Schattendasein im Büffet. Das Quellmittel Sago – längst durch Tütchen von Dr. Oetker ersetzt – war aus der Mode gekommen, und in der Schublade sammelte sich allerhand Kleinkram: Bleistiftstummel, Spitzer, Radiergummi, Büroklammern, Sicherheitsnadeln, Knöpfe, wertlose Münzen, Gummi-Ringe, Kappen für Saftflaschen und so weiter… So wundert es nicht, dass die von ihm gegründete Akademie für Poesie und Musik den Beinamen »Sago« trägt und seine Schüler als »Sagonauten« die Kleinkunstbühnen der Republik erobern.
Bei meinem ersten Besuch in diesem illustren Kreis stellte Christof als Einstiegsübung in die Unterrichtsstunde ein Zitat aus dem Thomas-Evangelium in den Raum: »Das Königreich des Vaters gleicht einer Frau, die einen Krug voll Nahrung mit sich trägt. Während sie eine lange Straße entlang ging, brach der Henkel des Kruges, und das Mahl verteilte sich auf der Straße. Sie merkte es nicht und hatte deshalb auch kein Problem damit. Als sie zu Hause ankam, stellte sie fest, dass der Krug leer war.« Darüber sollten wir nachdenken und überlegen, worauf es in diesem Gleichnis wohl ankommt. Ich meine, es ist die Spur, die jene Frau mit ihrer verschütteten Nahrung hinterlässt. Christof Stählin hat – im Bild des Evangelisten gesprochen – seinen leeren Krug abgestellt und eine Spur hinterlassen, die uns leuchtet und nährt – bei aller Trauer um den verstorbenen Freund und Kollegen.